Das Unionsrecht hat erheblichen Einfluss auf das nationale deutsche Arbeitsrecht. Ein Beispiel, an dem dies besonders deutlich wird, ist das Urlaubsrecht. Mit der Schultze-Hoff-Entscheidung vom 20.1.2009 (C-350/06) leitete der EuGH eine grundlegende Neuausrichtung des Urlaubsrechts ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist.
1. Entwicklung der Urlaubsrechtsprechung
Mit der Schultze-Hoff-Entscheidung versagte der EuGH einem Verfall der gesetzlichen Urlaubsansprüche nach § 7 Abs. 3 BurlG spätestens am 31.03. des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres die Anerkennung für den Fall, dass die Urlaubsansprüche wegen langandauernder Erkrankung der Arbeitnehmer nicht vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit realisiert werden konnten. Übergesetzliche Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche können durch Tarif- oder Arbeitsvertrag frei geregelt werden.
Damit stellte sich die Frage ob und ggfs. wie für gesetzliche Urlaubsansprüche eine andere zeitliche Begrenzung gefunden werden kann. Auf Vorlage des LAG Hamm (15.4.2010 – 16 Sa 1176/09) entschied der EuGH durch Urteil vom 22.11.2011 (C-214/10 „KHS“), dass Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG („Arbeitszeitrichtlinie“) einzelstaatlichen Regelungen nicht entgegenstehe, nach denen der Urlaubsanspruch nach einem Übertragungszeitraum erlösche, wenn dieser Zeitraum ausreichend sei, was bei 15 Monaten gewährleistet sei. Diese Vorgaben hat das BAG übernommen und wendet § 7 Abs. 3 BurlG unionsrechtskonform mit einer Verfalldauer von 15 Monaten auf gesetzliche Urlaubsansprüche an (z.B. BAG, Urteil v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10).
Im Jahr 2016 erfolgte dann eine Vorlage an den EuGH durch das BAG zu der Frage, ob ein Verfall des Urlaubsanspruchs auch dann angenommen werden kann, wenn Arbeitnehmer Dauer und Lage des Urlaubs beantragen muss, damit dieser nicht am Ende des Übertragungszeitraums untergehe. Der EuGH hat auf den Vorlagebeschluss mit Urteil vom 6.11.2018 (C-684/16) entschieden, dass sich der Arbeitgeber auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers nur dann berufen kann, wenn er zuvor konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge getragen hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der nicht genommene Urlaub ansonsten verfallen wird. Auch diese Rechtsprechung des EuGH hat das BAG umgesetzt, erstmalig mit der Entscheidung vom 19.2.2019 (9 AZR 423/16), die in der Folgezeit mehrfach durch das BAG bestätigt wurde.
2. Die neuen Vorlagebeschlüsse
Im Jahr 2020 gibt es nun zwei weitere Vorlagebeschlüsse des BAG an den EuGH zum Thema Urlaub.
Mit Beschluss vom 7.7.2020 (9 AZR 401/19 (A)) hat das BAG dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Mit dieser Vorlage will das BAG zwei Konstellationen in Übereinstimmung bringen: Die Rechtsprechung, nach der der gesetzliche Urlaub nur bei Beachtung der Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers verfällt und die Rechtsprechung, nach der der Urlaub wegen fortdauernder Erkrankung 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres verfällt.
Mit Beschluss vom 29.9.2020 (9 AZR 266/20 (A)) schließlich hat das BAG dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Einklang steht, wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der aufgrund unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers nicht bereits nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen konnte, gemäß § 194 Abs. 1, § 195 BGB der Verjährung unterliegt.
3. Folgen für die Praxis
An den Umstand, dass Urlaubsansprüche, die wegen langandauernder Erkrankung nicht realisiert werden konnten, nicht mehr am 31.3. des Folgejahres verfallen, hat sich der Markt mittlerweile gewöhnt. Die Rechtsprechung zu den Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers hat da schon größere organisatorische Auswirkungen. Die oft gelesene Empfehlung, den arbeitgeberseitigen Hinweis zu Beginn des 3. Quartals abzusetzen, wenn in der Regel alle Urlaubsansprüche nach § 5 Abs. 1 Zif. c) BUrlG entstanden sind, hilft bei der Koordination von Arbeitsabläufen nur bedingt.
Wichtig ist immer wieder der Hinweis, dass es sich bei den betroffenen Urlaubsansprüchen (bislang) ausschließlich um die vor der langfristigen Erkrankung entstandenen Urlaubsansprüche handelt. Ansprüche, die während der Arbeitsunfähigkeit entstehen, verfallen derzeit nach der Rechtsprechung des EuGH noch nach wie vor 15 Monate nach dem Ende Urlaubsjahres. Ob der EuGH dies im Rahmen der aktuellen Vorlageentscheidung auch für vor der Arbeitsunfähigkeit entstandene gesetzliche Urlaubsansprüche so sehen wird, bleibt abzuwarten. Die Argumentation ist eigentlich identisch: Die Erfüllung oder Unterlassung der Mitwirkungspflichten ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Mitwirkung krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage ist, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Urlaubsanspruch demnächst überhaupt noch verjähren kann, bleibt ebenfalls abzuwarten.